Jubiläum: 50 Jahre Seeräuber-Blättle
17. Juli 2023
Der Tradition verpflichtet
Jubiläum: 50 Jahre Seeräuber-Blättle
Bei der Übernahme des Seeräuber-Blättles im Sommer 2021 war sich Elysen Butz als neuer Herausgeber nicht wirklich sicher, ob er volle zwei Jahre durchhalten und das 50-jährige Jubiläum feiern würde. Das vorliegende Heft mit der laufenden Nummer 568 beweist, dass er vieles richtig gemacht hat.
Auf der Titelseite des ersten Seeräuber-Blättles ist unter dem Erscheinungsdatum 12. April 1973 ein Text abgedruckt, der den Böckinger Bürger*innen – und nur für sie war das Heft gedacht – erläuterte, was da in Papierform auf sie zukam. „Eigentlich werden, wenn eine neue Zeitschrift erscheint, viele schlaue Worte geschrieben: warum die Zeitschrift erscheint, welche Probleme sie aufdecken und welche Lebenshilfen sie geben will. All das möglichst noch mit sozialem Einschlag (…). Diesen Ehrgeiz haben wir nicht.“ Weiter unten verdeutlicht der Verfasser (bei dem es sich mutmaßlich um Gerd Wünsch handelt), warum es sich lohne, „…Ihr Blättle aufmerksam zu lesen. Nicht nur, weil Sie beim Preisrätsel gewinnen können, sondern weil Sie auch in den Anzeigen etliche Tips für Ihre Einkäufe und Anschaffungen finden werden. Denn (…) das Angebot der Böckinger Gewerbetreibenden kann sich sehen lassen – oder?“
Das waren noch Zeiten. In Heft 1 wirbt beispielsweise die Wohnbau-Gesellschaft WOSTRA für ihre Neubau-Eigentumswohnungen in der Großgartacher Straße. Eine knapp 70 Quadratmeter große 3-Zimmer-Woh-nung kostet 96.500 D-Mark, wer einen Auto-Abstellplatz wünscht, legt noch einmal 2.000 D-Mark drauf. Im Fachgeschäft von Lotte Blatt in der Hofstattstraße gibt es „Marken-Herren-Hemden, modisch gestreift“ schon ab 16,95 D-Mark und der Friseursalon Leiensetter („3 x in Böckingen“) kennt die „neuen Modefrisuren zu Ostern: SUMMERTIME für die Dame, SPORTING-STYLE für den Herrn“. Tatsächlich ließ sich 1973 noch sehr vieles vor Ort erledigen, es gab etliche Bäcker und noch mehr Metzger, es gab Blumenläden und Dro-gerien, Spielwaren und Textilien. Alles potenzielle Anzeigenkund*innen.
Die Zeiten haben sich geändert. Als Irmgard Wünsch, die das Blättle nach dem Tod ihres Mannes Gerd in Eigenregie fortgeführt und lange gut davon gelebt hat, 2021 alters- und krankheitshalber ans Aufhören denkt, ist die Sache kompliziert. Die Anzahl der Anzeigen ist (auch infolge der Corona-Pandemie) bedenklich zurückgegangen, die Verteilung des Heftes funktioniert aus verschiedenen Gründen mehr schlecht als recht – und zu allem Überfluss initiiert der Gewerbe- und Handelsverein Böckingen e.V. ein Konkurrenzblatt, das er ohne jede Spur von Scham Seeräuber Magazin tauft. Elysen Butz, Inhaber der digitale medien print gmbh, der das Blättle bereits seit 2020 im Auftrag von Irmgard Wünsch druckt, zögert dennoch nicht und tritt als Herausgeber an ihre Stelle.
Nach dem Motto „Klotzen statt Kleckern“ trifft Butz fünf wegweisende Entscheidungen. Erstens erscheint das Seeräuber-Blättle ab Sommer 2021 vollständig in Farbe, zweitens wird eine Grafikerin eingebunden, die dem Heft eine ansprechende Gestalt gibt, und drittens sorgt die Verpflichtung eines Redakteurs dafür, dass sämtliche Texte vor ihrer Veröffentlichung stilistisch überarbeitet sowie deren Orthografie und Interpunktion verbessert werden. (Bei den Texten von Lucky, dem vierbeinigen Kolumnisten, erübrigt sich das: er schreibt äußerst unterhaltsam und überdies absolut fehlerfrei.) Viertens wird die Verteilung in Böckingen und Klingenberg auf Vordermann gebracht. Fünftens schließlich geht das Blättle mit einem eigenen Internet-Auftritt unter seeraeuber-blaettle.com online. Wenngleich die Grafikerin und der Redakteur sich in erster Linie nicht dem Profit, sondern der Tradition verpflichtet fühlen und daher für kleines Geld arbeiten (Lucky genügen ein paar Leckerli), verteuern diese Maßnahmen die Produktion des Blättles erheblich. Herausgeber Butz kann in den ersten Monaten nach der Übernahme froh sein, wenn der Erlös aus dem Anzeigenverkauf die gestiegenen Kosten halbwegs deckt. An Gewinn ist zu dieser Zeit nicht zu denken.
Aber obwohl die Widrigkeiten zunehmen – allein der Papierpreis steigt zwischen 2021 und 2022 um mehr als 60 Prozent – , setzt sich das neue Konzept durch und sorgt für einen sukzessive steigenden Umsatz. Mindestens genauso erfreulich sind die positiven Rückmeldungen der Leser*innen. Nachdem es beinahe am Boden war, feiert das Blättle nach und nach eine Art Auferstehung. Und wenngleich der Vorsatz, keine parteipolitisch motivierten Beiträge mehr zu bringen, nicht überall Beifall findet (Grüße an die FDP) und auch die konsequente Anwendung einer gendergerechten Sprache manche Leser*innen irritiert: man spricht wieder darüber, was im Seeräuber-Blättle steht. So soll es sein.
Es ist nicht unser Verdienst, dass eines der ältesten Anzeigenblätter Deutschlands ein halbes Jahrhundert überdauert hat. Gleichwohl sind wir, das neue Team hinter dem Blatt, ein ganz klein wenig stolz. Denn wer weiß – womöglich wäre eine Böckinger (und Klingenberger) Institution ohne unseren Einsatz am Ende doch nur 48 geworden. Wir bedanken uns bei allen Anzeigenkund*innen, die ihre Werbeausgaben bei uns gut angelegt wissen und bei allen Leser*innen, die sich auf jede neue Ausgabe in ihrem Briefkasten freuen. Also auf die nächsten 50 Jahre? Mit Blick auf die unaufhaltsame Digitalisierung und Phänomene wie ChatGPT wage ich die Prognose: wohl kaum.
Text: Michael Kiefer / Redaktion